Gedichte

Narziß

 

1.

 

In einem See mit sanftem Wasser

sah ich auf einmal den Narziß.

Und was er sah, war ich. Und was er

gesehn, versagte er ‒: Vergiß.

 

Und ich vergaß, was er gesehen:

Ich selbst mich selbst. Der Blick war blank.

Die Welt samt ihren sanften Seen

versiegte. Und auch er versank.

 

2.

 

Am Grund die Hände. Jeder Finger

bewegte sich im Wellenlauf.

Ein Algenhafter. Dann zerging er

und löste sich in Adern auf.

 

Danach die Arme. Ein Verfließen

bis hin zum fernen Horizont.

Allein die weichen Locken ließen

sich weiter treiben ‒ lang und blond.

 

3.

 

Ein Bild, versunken in den Fluten,

von seiner Quelle losgelöst,

besteht noch einige Minuten,

bevor es zu den Schatten stößt,

 

zerstiebt zu Tausenden Photonen,

der Farben und der Formen bar:

Zwei ungestalte fahle Zonen,

wo einst gestrahlt ein Sternenpaar.

 

4.

 

So will auch ich zersprühn, zerspritzen,

wie dies verspielte Spiegelbild,

um niemals wieder aufzublitzen.

So will auch ich ... Doch ungewillt.

 

Denn etwas hält mich noch zusammen

und gibt mir sicheres Geleit

durch diese Welten, die verschwammen:

Es ist das tiefe, tiefe Leid.

 

5.

 

Schau: Zwischen dir und meinen Augen

zieht sich ein tiefer, tiefer Riß,

weshalb sie kaum zum Sehen taugen.

Und darum schließ ich sie ‒: Vergiß.

 

Der Blick hinein war nur geliehen,

die Perspektive unpräzis,

durch die ich alle Linien fliehen

und alle Ziele fallen ließ.

 

6.

 

Ade, Narziß. Ich laß dich sinken

und wende mich nach dir nicht um.

Nur wesenlose Wellen winken ‒

darunter bleibt es taub und stumm.

 

Das Spiegelbild, das ich geworfen,

zerschwimmt mit jedem neuen Schritt

im Wolkenhaften und Amorphen,

und du, Narziß, verschwindest mit.

 

*

 

Daphne

 

Der Baum entbrannte dir als Retter

auf deiner Flucht mit grüner Flamm.

Jetzt atmest du durch seine Blätter

und stehst gestützt auf seinen Stamm

 

und glühst bis tief unter die Rinde

in seiner grünen Lorbeerloh. ‒

Ob ich dich jemals wiederfinde,

Nymphe, die vor Apollo floh?

 

*

 

 

Pan

 

Dein Mund verzweigt sich in der Flöte.

Dein Fuß verwurzelt sich im Huf.

All deine aufgewühlten Nöte

steigen im Rohr zum Frühlingsruf:

 

Sie jubeln röhrend, sie erblühen

‒ eine von Süd erfüllte Frucht ‒

bis in den Bauch von jungen Kühen,

bis in das Blau der alten Bucht.

 

*

 

 

Aktäon

 

1.

 

Dein Licht versilberte den Himmel

und hat zum Hirschen mich gemacht.

Nun stürzt ein winselndes Gewimmel

ihn stürmisch ins Gestrüpp der Nacht.

 

Ein Blick, ein winziger, verwandelt

mich in ein zweigendes Stück Wild,

vom blühenden Geweih ummandelt,

daß mir vor Blut die Ader schwillt.

 

2.

 

Ein kleiner Strahl des großen Mondes

und alles an mir wird zu Fell,

und alles um mich wird ein drohndes

Geknurr und hungriges Gebell,

 

und alles in mir wird zu Bissen. ‒

Ach, warum war der Mond so groß,

im Wolkensee so zart umrissen,

so silbern und so hüllenlos?

 

*

 

Copyright: Alexander Nitzberg

 

 

 

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